Wenn ich im Folgenden – aus ganz persönlicher Perspektive – noch einige Beobachtungen im Blogstil berichten möchte, dann in der Absicht, Euch allen im Verein und im Vorstand herzlichen Dank für Eure Unterstützung und guten Wünsche zu sagen. Vielleicht könnt Ihr auf diese Weise an den vielen – kleineren wie größeren - eindrucksvollen Erlebnissen und Beobachtungen teilhaben, die mir in diesen drei Tagen Ukraine widerfahren sind. Dies auch in der Hoffnung, dass der Reiseaufwand doch nicht umsonst gewesen ist. Das Leben schreibt ja zuweilen auch ohne oder sogar wider unsere Erwartungen sein ganz eigenes Lehr- und Unterhaltungsprogramm.
In Sachen Länge meines Berichts halten wir es ausnahmsweise wie beim Fernsehen: Wer nicht schauen mag, möge bitte gnädig das Programm wechseln. Und bitte nicht alles bierernst nehmen, schmunzeln ist ja schließlich nicht schädlich. Dafür besten Dank!
Vorbereitungszeit, die letzten sechs Monate:
Es wird ja niemand so unbillig sein zu verlangen, dass ich ihm Einblick in mein WM-Vorbereitungs-Seelenleben gewähre. Aber ehrlich: es hat stattgefunden. Sogar völlig ohne Dennis. Das Praktische ist, dass wir Trainer in solchen Phasen endlich mal ohne den störenden Einfluss unserer Schützlinge aus den Tiefen unserer Erfahrung und Projektionen schöpfen können :-). Würden wir diese Fähigkeiten mal konzentriert auf’s Lottospielen anwenden, dann hätte die Not schon längst ein Ende. Aber nein – es muss ja Leichtathletik sein...
Vorbereitungszeit, einen Monat davor:
Tsss, da hat er doch tatsächlich die Quali geschafft. Eine prima Punktzahl beim Bernhäuser Zehnkampf. Mal sehen, ob ihn der DLV auch nominiert.
Wartezeit, zwei Wochen vor WM:
Anruf beim DLV – ja, er ist nominiert. Verflixt. Er ist doch noch so klein. Und dann so weit weg in die Ferne?! Mit lauter fremden Menschen. Da gibt’s doch bestimmt noch Straßenräuber! Und wer sagt ihm, wo er den Stab greifen soll? Ach nee, Stab fällt ja weg. Aber keiner passt auf, dass er rechtzeitig ins Bett geht und ordentlich isst. Bloß nix Rohes. Und nix Ungekochtes. Und ja kein Wasser aus dem Hahn trinken. Am besten auch nicht duschen. Man schluckt ja so schnell was dabei. Im vorderen Orient, das weiß jedes Kind, bemächtigen sich nämlich boshafte Kolibakterien bevorzugt unerfahrener deutscher Achtkämpfer. (Achtkampf - was ist das eigentlich für ein gestutzter IAAF-Zehnkampfkram?) Soll ich mit? Besser ja. Werde mal fragen. Ach du Schreck. Reisepass abgelaufen. Rasch beantragen. Womit bezahlt man dort? Was? Wie heißt die Währung? Griwna? Nie gehört. Das klingt doch schon wie die galoppierende Inflation. Und Bargeld mit in das Land nehmen? Hahaha, wer macht denn so was? Wohl nur Leute, die noch nie etwas von eigenartigen Sympathiebekundungen gegenüber Fremden gehört haben. Vor allem, wenn sie im Dunkeln erst ankommen. Also rasch die Rundum-Glücklich-ADAC-Master-Gold-Card beantragen. Die bringt mich notfalls auch in Einzelteilen zurück in die heimische Werkstatt. Und das voll versichert. Selbst bei Totalschaden. Sapperlot, geht’s uns gut hier. Noch ein paar Liter Sagrotan kaufen. Und Immodium. Vomex wär’ auch nicht schlecht. Und Müller-Wohlfahrt’s Beste aller Wundersalben. Die ersetzt notfalls noch die morgendliche Nutella und pflegt zugleich die Zunge.
Wartezeit, drei Tage davor:
Wie ist denn eigentlich das Wetter da? 32 Grad. Trocken. Ja, das denken die. Nix trocken! Da schwitzt man doch bestimmt wie ein Pferd in der Sauna. Das liegt doch schon ziemlich nahe an Indien dran. Also tropisches Klima. Meersalz mitnehmen. Unbedingt. Das verhindert Krämpfe. Den ganzen Magnesiumquatsch kann man in der Pfeife rauchen. Einfach nur ein gutes Salz. Ein Kilo genügt für die beiden Wettkampftage. Nun muss er es nur noch zu sich nehmen. In rund 15 Litern Wasser aufgelöst, können sich die Krämpfe andere Opfer suchen. Wo war noch mal mein Nürnberger Trichter?
Abreise, zwei Tage nach Dennis:
Alle Verfügungen wegen meines baldigen Ablebens getroffen. Es weiß ja jeder, dass die ihre Maschinen nicht warten, damit sich die Präsidentensöhne alle halben Wochen neue Fluggeräte zum Spielen leisten können. Doch dann: Ein zufälliges europaweites Hochdruckgebiet hält das Ding wider Erwarten in der Luft. Und der Pilot bringt es sogar runter. In Kiew und in Donezk! Tss – die wollen bestimmt unsere Devisen. Oder die Präsidentensöhne sind wegen der Hitze auf der Krim. Egal, der Fensterplatz im Flieger lenkt ab von solch trüben Erwägungen. Interessante Optik auf das hochsommerliche Mitteleuropa: Deutschland grün und bevölkert, Tschechien ähnlich, Polen deutlich weniger Ortschaften, weniger Wald, die Ukraine eine einzige riesige, wenig besiedelte Ackerfläche. Die Felder eingefasst von Gehölzen, wenig Wasser. Von oben hübsch anzusehen. Unten bestimmt nicht einfach hier. Weit und breit kein Aldi zu sehen.
Ankunft:
Abends vorm Wettkampftag. Ankunft in Donezk. Es dämmert rasch. Der Osten marschiert schnurstracks auf den Winter zu. Und das bei 30 Grad. Die haben mir schon eine Stunde geklaut. Wieder eine weniger. Doch keine Zeit für vanitas-Gedanken. Mein Magen knurrt. Der freundliche Hotel-Mitarbeiter erhört meine Gebete, ist pünktlich zur Stelle und führt mich stracks in die Gepflogenheiten des Donezk’schen Innenstadtverkehrs ein. Und Ihr glaubt, der Sozialdarwinismus sei ausgestorben? Die wissen schon, warum die Bürgersteige durchschnittlich gut 30 Zentimeter über der Fahrbahn liegen. So kann man die zweibeinigen Ziele viel früher ausmachen und anpeilen. Die Richtgeschwindigkeit beträgt 60 km/h in der Stadt. Zumindest die gesetzliche. Gehandhabt wird sie eher als unverbindliche Empfehlung. Wer will schon andere Verkehrsteilnehmer aufhalten. In der Tat erhöht die wirklich gefahrene Geschwindigkeit von 90-100 km/h den Verkehrsdurchsatz der Ein-Millionen-Stadt enorm und senkt die Emissionen erheblich. Es gibt auch weniger Unfälle, weil ja kaum Zeit dazu besteht. Also ehrlich: Es gibt doch was zu lernen hier. Ich bin baff.
Kurz darauf: Lebend im Hotel angekommen. Ich bin noch baffer. Das sieht ja aus wie ein richtiges Haus. Rasch duschen und etwas essen. Ich werde beides überleben. Hab’ ja Sagrotan, Immodium, Astronautenriegel dabei und etwas physische Reserve um mich herum.
Im Hotel:
Ja, wie? Die können Englisch? Aha – und ach so: wie ging noch mal meins… Nach ein paar Stunden blättert der Rost von meinen verbliebenen Sprachkenntnissen und vage Erinnerungen an ein paar notwendige ausländische Überlebenstechniken stellen sich ein. Zimmerbegehung: (Die Buchung war Zufall, es war nach langer Suche das letzte freie Hotelzimmer zur WM-Zeit!) vier Quadratmeter Flur, gleichfalls das Bad, 4 auf 5 Meter das Zimmer – alles perfekt ausgestattet, pieksauber, klimatisiert und ohne irgendwelche auch noch so kleinen Mängel. Tss – drei Sterne hier? Dann hatte unser Vier-Sterne-Hotel im Oster-Trainingslager an der Adria grob geschätzt fünf zu viel. Eine Mütze voll Schlaf (im Bett, ca. 2,5 auf 2,5 qm, volle Bewegungsfreiheit, selbst diagonal), danach ein gutes Frühstück auf der morgendlichen Sonnenterrasse. Ich bin geneigt, das eine oder andere kleine Vorurteil über Land und Leute zu überdenken.
Im Stadion:
Die freundliche Hotelangestellte eskortiert mich zum Stadion, damit ich nicht unterwegs Richtung Moskau abschweife oder gar einem lauernden Taxifahrer zum Opfer falle. Auf der halben Stunde Fußweg über breite Gehwege mit doppelreihigen, uralten, hohen und Schatten spendenden Alleebäumen, durch penibel gepflegte Parks mit leuchtenden Blumenrabatten, vorbei an interessanten Bürgerhäusern und weniger interessanten Wohnblocks, zwischen denen zaristischer Verfall und ultramoderne Prachtbauten (vermutlich die Präsidentensöhne) um den Vorrang im Stadtbild kämpfen, erklärt mir meine Führerin viel Wissenswertes über Land und Leute. Durchschnittseinkommen in der Ukraine umgerechnet rund 300 US-Dollar. Arbeitslosigkeit hoch. Eine kleine, politisch und wirtschaftlich hochgestrudelte Elite, die sich alles leisten kann und leistet. Viele Menschen am Rand des Existenzminimums. Die sie aber bei den Spielen wohl nicht in die Stadt gelassen haben. Ein Frauenüberschuss von vier zu eins. Landfluchtgedanken, die sich beim schönen Geschlecht dergestalt äußern, dass die Höhe der Plateausohlen direkt mit dem brennenden Wunsch, von einem interessanten Vertreter des anderen Geschlechts gesichtet werden zu können, zu korrelieren scheint. Ungelogen: e-Darling, Parship und Co. live! Ich habe beim Gang zum Stadion oder in der Schlange auf den Flughäfen gezwungenermaßen nicht wenigen jungen Damen über die Schulter blicken müssen (sie treten immer rudelweise auf), während sie lange Listen bindungswilliger Männer auf ihren mehr oder weniger teuren Handys oder Tablets durchgescrollt haben. Und das bei diesen Verkehrsverhältnissen. Alle Achtung. Doch überlassen wir die gesellschaftspolitische Berichterstattung und Einordnung lieber profunderen Kennern der Materie.
Und dann steht er da: Sergeji Bubka. Der Gottvater der Stabhochspringer. Auf seinem fünf Meter hohen Sockel, drei Meter groß in Bronze gegossen. Nun mit einer Flexzahl am metallenen Stabe, die nicht mal er selbst zu aktiven Zeiten hätte springen können. Der Sohn der Stadt. Als Sportler ein einziger Superlativ.
Direkt vor dem Haupteingang mit dem kuppelfömigen Funktionsgebäude und den beiden Türmen, die aussehen wie die Flugüberwachung in Frankfurt (ab sechs Metern Sprunghöhe greifen vermutlich die Regeln der Internationalen Luftraumbehörde). Das Stadion umweht vom Flattern der Fahnen aller Nationen. Ganz großer Bahnhof hier. Alles auf höchstem Niveau. Sämtliche Mondon-Matten komplett in den Farben und Logos der Veranstaltung. Überall elektronische Messvorrichtungen. So viele Kameras, dass die Überwachung im übrigen Land vermutlich herbe Verluste in diesen Tagen hinnehmen muss. Eine Ablauforganisation, die präzise wie ein Schweizer Uhrwerk arbeitet. Gefühlt zehntausend grün gewandete hilfreiche Hände, die in Nullkommanichts ganze Wettkampfstätten aus dem Hut zaubern und sie bei Bedarf in wenigen Minuten wieder verschwinden lassen, ohne dass der Ablauf gestört wird. Fast so effizient wie bei Hessischen Mehrkampf-Meisterschaften im heimischen Bürgerpark.
Verkneifen wir es uns an dieser Stelle, Erwägungen in der Richtung anzustellen, dass es gerade solche Veranstaltungen sind, mit der sich zweifelhafte politische Systeme gerne einen liebenswerten Anstrich verpassen. Geben wir uns stattdessen lieber naiv den unmittelbaren Eindrücken hin. Denn egal, wie sie einzuordnen sind: Wer sie empfängt, möchte sie wieder erleben. Das spiegelt sich in den Gesichtern der vielen jungen Sportlerinnen und Sportler aus allen Nationen eindeutig wider. Die Stimmung ist überwältigend. Es plappert, schnattert, pfeift, trällert, singt, ruft, radebrecht, fuchtelt mit Händen, Füßen, Locken, Pferdeschwänzen, Kappen, Schirmen und Kleidungsstücken dermaßen um einen herum, dass einem schier Hören und Sehen vergeht. Ein multinationales Esperanto fröhlicher Ausgelassenheit. Der Sport muss doch etwas Völkerverbindendes haben. Halten wir ruhig daran fest. Selbst wenn uns dabei hin und wieder mal uneinsichtige Füße in den Weg grätschen. Und seien es auch unsere eigenen.
Lassen wir’s dabei bewenden. Donezk war die Reise wert. Besten Dank für Eure Geduld und Unterstützung! Auf ein Neues!
Stephen
PS: Auch der Rückflug verlief übrigens völlig pünktlich und problemlos. Also wirklich - ich muss mir ein paar neue Vorurteile zulegen. Auf die Ukrainer ist jedenfalls kein Verlass in dieser Beziehung. Ich hab’s ja gleich gewusst…