Vom Autodidakt zum Meistertrainer
Leichtathletik – Reiner Liese vom ASC Darmstadt wird am Freitag 75 Jahre alt
Wenn es eines Märchens über einen Unermüdlichen bedürfte, Reiner Liese wäre der passende Protagonist dafür. Der Übungsleiter vom ASC Darmstadt zählt zu der Sorte Mensch, die sich durch ihr Alter keineswegs davon abhalten lassen, das zu tun, was ihnen und ihrem Umfeld trotz allen Aufwands Freude bereitet.
Dabei fing alles anders an, als es die typischen Trainerkarrieren sonst tun. 1943 in Warburg im Kreis Höxter (Nordrhein-Westfalen) geboren wohnte er zu Kinder- und Jugendzeiten in Kassel und schloss sich Anfang der 1960er-Jahre dem dortigen KSV Hessen an. Dort feierte er erste Erfolge als Zehnkämpfer, wurde 1963 Fünfter bei den Deutschen Juniorenmeisterschaften, erkannte seine wahre Stärke dann aber im Stabhochsprung. Bereits damals agierte Liese zumeist als Autodidakt – und das äußerst erfolgreich. 1965 kürte er sich zum Deutschen Hochschulmeister und nahm erstmals an der Universiade teil, wo er in Budapest 14. wurde. Bereits ein Jahr später kürte er sich mit 4,80 m zum Deutschen Hallenmeister, womit er endgültig die Aufmerksamkeit des Deutschen Leichtathletikverbands (DLV) auf sich zog. Der nominierte ihn noch im selben Jahr für die ersten Europäischen Hallenspiele in Wien, wo Liese sofort seinen international größten Coup landete. In der österreichischen Hauptstadt sicherte er sich 1966 die Bronzemedaille.
Im Folgejahr zog er für sein Mathematikstudium nach Darmstadt. Für Stabhochsprung gab es auch im hiesigen Leichtathletik-Club ASC keine Übungsleiter. „Also habe ich mich weiterhin selber trainiert“, erinnert sich Liese an die ersten Schritte in Südhessen. Gemeinsam mit Hans-Gerd Schüssler und Gerald Miosga bildete er eine eigenständige Trainingsgruppe. „Manchmal schaute auch mein Bruder vorbei, mit dem ich damals im Hochschulstadion wohnte, und korrigierte meine Abstände und den Anlauf.“ Seinem Leistungspotenzial schadete das nicht. Auch 1967 wurde er Deutscher Hallenmeister, steigerte sich dabei auf die Bestmarke von 4,90 m und belegte bei den Europäischen Hallenspielen in Prag den sechsten Platz. Und das, obwohl es in Darmstadt keine adäquate Halle für Stabhochsprung gab. „Wir mussten damals immer nach Dortmund zum Training fahren“, skizziert er heute den damaligen Aufwand. Auch bei der Universiade war er wieder erfolgreich: In Tokio belegte er Rang acht.
Mit dem ASC Darmstadt errang er 1968 seinen größten Erfolg. Im Hochschulstadion kürte sich das gastgebende Team zum Deutschen Mannschaftsmeister. 1971 gelang der nächste sportliche Schritt: Er überquerte erstmals die 5-m-Marke, um sich dann ein Jahr später auf seine Bestmarke zu steigern. Beim Länderkampf mit Belgien und den Niederlanden gewann er in Brüssel den Stabhochsprung mit 5,10 m, was bis heute Vereinsrekord beim ASC ist.
In der Folgezeit übernahm Liese, der sich immer als Team-Player verstand, auch als Übungsleiter immer mehr Verantwortung. „Im Fußball hätte man meine Rolle wahrscheinlich als Spielertrainer bezeichnet“, zieht er den passenden Vergleich. Denn er blieb weiterhin aktiv, wurde 1977 nochmals Hochschulmeister und „ärgerte meine Jungs“ (Liese) drei Jahre später als 37-Jähriger mit dem abermaligen Gewinn der hessischen Meisterschaften. Stephen Wirth und Martin Wurm waren zwei seiner Schützlinge, die letztlich mit ihm gleichzogen und beide ebenfalls 5,10 m als persönliche Bestleistung stehen haben.
Vor allem aber war es der Mehrkampf, der ihm bei der Athletenförderung am Herzen lag. Matthias Köppen erreichte 1995 unter Liese 7075 Punkte, und in dieser Saison formte er den ersten ASC-Athleten mit, der die 8000er-Marke knackte. Dennis Hutterer steigerte sich bei den hessischen Meisterschaften im Darmstädter Bürgerpark auf 8032 Zähler. Zeitgleich holte sich sein Schützling Aaron Giurgian bei den deutschen Jugendmeisterschaften den Titel über 80 m Hürden
Überhaupt widmete er sich ab Anfang der 2000er-Jahre immer mehr auch dem Nachwuchs. Neben zahlreichen Mannschaftsmedaillen bei Deutschen Mehrkampfmeisterschaften stechen hierbei die Titelgewinne des U16-Teams 2006 (Achtkampf), der U18-Mannschaft 2007, der männlichen U20 2009 (jeweils Zehnkampf ) sowie der DSMM-Mannschaft 2011 in der männlichen U16 heraus.
Zudem betreute er bis vor Kurzem für den Hessischen Leichtathletikverband (HLV) den Stabhochsprungkader und ist weiterhin Stützpunkttrainer im Mehrkampf. Dass er „nebenbei“ bis 2010 als Fachbereichskoordinator Mathematik für die TU Darmstadt aktiv war, rückt dabei schon fast in den Hintergrund,.
Wie lange er mit jetzt 75 Jahren noch als Trainer agieren möchte? Reiner Liese antwortet trocken: „Solange ich Spaß daran habe und es gesundheitlich klappt.“ Der ASC Darmstadt, aber auch der Leichtathletikkreis Darmstadt-Dieburg wären froh darüber. Die Kreisvorsitzende Andrea Zemke (Klein-Umstadt) kennt jedenfalls “niemanden, der für alle Altersklassen ein so guter Trainer ist. Das ist schon eine seltene Gabe. Auch ich kann ihn mit seiner Expertise immer wieder um Rat fragen, auch weil er ein großartiger Kommunikator ist.“